In Foren und Leserbriefen einschlägiger Hundemedien häufen sich mittlerweile die Meldungen und Bitten um Rat und Hilfe von Hundehaltern, deren Vierbeiner „komplett überdrehen“, völlig hibbelig seien und auch schon mal ganze Wohnungseinrichtungen zerlegen. Woran liegt´s?
Schnell ist von „nicht ausreichender körperlicher und geistiger Beschäftigung“ die Rede. Und es hagelt gut gemeinte Trainings- und Übungskursempfehlungen. Statt der Ursache für das hektische Verhalten des keineswegs vernachlässigten Vierbeiners auf den Grund zu gehen, werden also von den Ratsuchenden immer neue Beschäftigungstipps wahllos und immer wieder wechselnd ausprobiert. Die Outdoor-Runden verlängert, die Schlagzahl beim Dummytraining erhöht, das heimische Hundespielzeugangebot aufgerüstet. Mit mäßigem bis gar keinem Erfolg. Hund bleibt unruhig und wird immer fordernder. Und die wachsende Verzweiflung der bemühten Halter ist in jedem neuen Posting, jedem weiteren Leserkommentar deutlich erkennbar.
Vermehrt wird neuerdings auch auf „Beobachtungen in den USA“ hingewiesen, wonach die hyperaktiven und manisch wirkenden Abrissbirnen auf vier Beinen „vermutlich“ an ADHS leiden, was man aber „vergleichbar wie beim Menschen“ medikamentös sehr gut behandeln könne. Ritalin für Hunde? Chemischer Plattmacher für Frust-Labi und Anarcho-Aussie? Spätestens an dieser Stelle beginnen bei den meisten Lesern die inneren Alarmanlagen zu schrillen. Zu Recht.
Wann und wie hat es angefangen? Bei uns Menschen läuft es nicht selten folgender Maßen ab: Bevor der neue Zweibeiner das Licht der Welt erblickt, ist der Baby-Schwimmkurs schon gebucht und die Kindergartenanmeldung bereits abgegeben. Der Kugelbauch wird mit Klassik beschallt, obwohl Mama eigentlich auf Heavy Metal steht und bei Brahms oder Chopin ein starkes Unwohlsein entwickelt (was wiederum das im Wortsinne mitfühlende Ungeborene auf die Verknüpfung „Klassik = Erbrechen“ konditioniert). Eine vergleichbare „Intelligenzförderung“ bleibt dem Hundebaby, Züchter sei Dank, erspart. Doch ähnlicher wird es bei der nachgeburtlichen „Frühförderung“: Während Minimenschlein schon Englischunterricht erhält, bevor es in seiner Muttersprache „dada“ sagen kann, ist auch für den noch gar nicht eingetroffenen Fellzwerg jeder Wochentag perfekt durchgetaktet - von den Terminen in der Welpenspielgruppe über das Leinentraining bis hin zum eigenen Agility-Parcours im Garten und dem angelesenen „Clickern von Anfang an“ sowie dem zweimal wöchentlich stattfindenden „Trailen für Early Beginners“. Und nicht nur Jungjagdhunde wie Weimaraner, Labrador Retriever oder Magyar Vizsla sitzen damit von Tag 1 an, gemeinsam mit ihren übermotivierten Haltern, in der Turbo- Beschäftigungsfalle. Auch sehr aktive Hütehundminis mit eher niedriger Frustrationsschwelle hetzen vermehrt von einem „Schneller, Höher, Weiter“- Welpentermin zum nächsten. Australian Shepherd, Border Collie und Co. werden geclickert, klettern, hüpfen, springen, fangen – immer mehr, mehr, mehr. Bewegungsreize im Übermaß. Sitz, Fuß, Platz. Platzen? Höchstens vor ständig steigender Aktivität. Platz zum Großwerden, hündisches Rumdösen, neugierig durch die größer werdende Hundewelt tapsen, Spontannickerchen? Keine Zeit, keine Zeit.
Angestachelt von den rasant zunehmenden Heerscharen selbst ernannter Hundefachleute und in dem Bestreben, „existenzielle“ Bedürfnisse ihres Hundes in Form von allen möglichen Aktivitätsangeboten zu erfüllen, übersehen Frauchen und Herrchen, dass der Umgang mit normalen Situationen des üblichen Familienalltags zunächst völlig ausreichende Herausforderungen für die kleine Fellnase bietet. Doch gedrängt vom eigenen Anspruch, ein vorbildlicher Hundehalter zu sein, sorgt der Zweibeiner für einen regelrechten Beschäftigungsmarathon, der sowohl Mensch wie auch Tier ständig volle Aufmerksamkeit und höchste Konzentration abfordert. Natürlich werden noch fix die aktuellen Kombi-Hundesportkreationen in das „dringend empfohlene“ Welpen- Förderprogramm aufgenommen. Die Folge: Verzweifelte Hundehalter, die von befellten Nervenbündeln berichten, deren kaum noch oder gar nicht mehr vorhandene Frustrationstoleranz auch ihre bemühten Menschen zunehmend in den Wahnsinn treibt.
„Mein Hund kommt überhaupt nicht zur Ruhe!“ lautet eine der am häufigsten verwendeten Formulierungen. Was Wunder – er hat ja auch nie Zeit dazu. Obwohl er es könnte, wenn man ihn erst einmal gelassen hätte. In Ruhe gelassen hätte! Denn Fressen, Saufen, Verdauen, Toben und ausgiebiges Abhängen gehören eigentlich zum gut ausgewogenen Starterprogramm, mit dem Minihund seinen Weg ins Leben antritt. Herausgerissen aus diesem entspannten Laisser- faire- Modus und mit immer neuen Bewegungsreizen konfrontiert, werden die vierbeinigen Neuankömmlinge zu schnell überdrehenden und stressanfälligen Hektikern, die teilweise sogar verstärkt aggressiv nach permanenter Beschäftigung verlangen.
Hat der Zweibeiner erst einmal akzeptiert, dass seine gut gemeinten Aktivitäten ursächlich für das beklagte Verhalten seines notorischen „Hans Dampf“ sind, ist schon ein großer Schritt in Richtung Besserung getan. Ab sofort wird das Programm auf maximal einen festen Kurstermin pro Woche eingekürzt. Zuhause gibt es keine hektischen Dauerzerr- und Wurfspiele mehr, sondern gemütliches Beisammensein. Auch Leckerchen-befülltes Kullerspielzeug ist tabu. (Abgesehen von der wieder mit Hektik verbundenen Futtersuche, will man ja grundsätzlich vermeiden, dass Hund ständig den Boden – drinnen wie draußen – nach Fressbarem absucht und womöglich auch weniger Bekömmliches aufnimmt.)
Die eigentliche Herausforderung besteht darin, dem schnell hochjazzenden Vierbeiner nicht nur zusätzlich tägliche Ruheeinheiten „ohne alles“ zu verordnen, sondern dafür Sorge zu tragen, dass diese auch konsequent eingehalten werden: Morgenspaziergang und Fütterung absolviert? Dann ab ins Körbchen, hinter das Welpengitter oder in den Softkennel und mindestens eine Stunde Nichtstun. Gejieper und Gejaule konsequent ignorieren. Nötigenfalls mit Ohrenstöpseln aussitzen, aber den Hund nicht im Raum allein lassen, schließlich soll dieser in Gegenwart seines Menschen zur Ruhe kommen und dessen Nichtreaktion annehmen lernen. „Ich, dein Mensch, bin da, aber ich spring nicht gleich auf, nur, weil du das jetzt so willst.“
(Eigenheimbesitzer sind bei diesen Übungseinheiten natürlich klar im Vorteil, während der mietende Hundehalter schon mal um das bis dato gute Verhältnis zu seinen Mitmietern oder gar seinen Vertrag bangen muss, wenn Minihauswolf lautstark protestierend gegen die ungewohnte Nichtbeachtung aufbegehrt. Tipp: Entspannungstraining in eine Ferienwohnung im ländlichen Nirgendwo verlegen.)
Der Mensch muss noch weitere Ruhezeiten pro Tag festlegen, die dem Aktivitätsrhythmus der Familie entsprechen – und nicht umgekehrt das Zweibeinerleben auf jede noch so kleine Gefühlsregung des Fellterroristen ausrichten. Denn dieser muss kapieren: "Wenn ich penne, verpasse ich nichts. Man wird mir schon sagen, wenn´s für mich ist." So erstaunlich schnell es bei konsequenter Einhaltung der neuen Ruhezeiten zu einer positiven Verhaltensänderung kommen kann, so ein langer und ausdauernder Kampf kann es bei dem einen oder anderen besonders dickköpfigen Kandidaten werden. Es gibt nur eine Regel: Wer nachgibt, hat verloren! Hol den heulenden, jaulenden oder jämmerlich fiependen Fellzwerg aus seiner Ruheecke (Körbchen, Welpengehege, Kennel oder Softbox) und Du kannst gleich wieder von vorn anfangen. Wer hingegen tapfer durchhält, wird belohnt.
Wir drücken die Daumen all jenen, die jetzt ein paar Gänge runter schalten müssen, damit sie endlich ein rundum entspanntes Mensch-Hund-Team werden.
Allen Neu-Welpenbesitzern sei gesagt: Lasst es ruhig angehen. Viele Hunderassen sind erst mit drei Jahren in Fell und vor allem im Knochengebäude vollständig entwickelt. Stundenlange Gebirgsmärsche oder Am-Rad-Laufen von Junghunden führen nicht selten zu Gelenk- und Wirbelbelastungen und damit verbundenen Fehlentwicklungen, die dem ausgewachsenen Hund erhebliche Probleme bereiten können. Gebt Euch und dem Fellzwerg gut ein Jahr, um Euch und Euer Leben kennen zu lernen. Findet in Ruhe heraus, woran Minihund Spaß hat, und hört Euch dann um, welches Sportangebot passend sein könnte. Beobachtet Euren Vierbeiner, wie er seiner Umwelt begegnet und seine Sozialkontakte knüpft und festigt. Natürlich soll er nicht seine Ausrüstung zerkauen und mit sechs Monaten kann er schon Grundkommandos wie „Sitz“, „Fuß“ und „Komm“ ausführen. Spielzeug darf selbstverständlich auch sein. Tipp: Kiste mit Hundespielzeug einrichten. Nicht alles auf einmal anbieten, sondern immer mal wieder durchtauschen. So gibt es kein Stress auslösendes Überangebot.
Vor allem: Lasst Euch nicht verrückt machen! Weder vom Hund noch von wohlmeinenden Mitbürgern, die der Meinung sind, „nur Spazierengehen“ käme einer Vernachlässigung gleich. Nur keinen Stress! Der Pfotenzwerg hat nämlich schon genug zu tun: Er wächst. In seine Felljacke hinein und in Euer gemeinsames Leben. Alles braucht seine Zeit. Zeit für Euch und einen Hund im Glück.
Quelle: hund-unterwegs.de